Wie können Nebenwirkungen der Strahlenbehandlung minimiert werden?
Neuigkeit • von Dirk Keil
Es war eine Überraschung:
"Die Zwischenergebnisse unserer RAREST 02-Studie sind nicht so, wie wir es erwartet haben. Bislang konnte nicht gezeigt werden, dass die Patienten, die eine ErinnerungsApp benutzen einen größeren Vorteil davon haben. Aber was sich ergeben hat ist, dass alle Patienten durch die Teilnahme an der Studie profitieren und weniger Ne-benwirkungen haben als normalerweise – und das ist natürlich ein sehr schönes Ergebnis“, sagt Inga Zwaan, Ärztin an der Klinik für Strahlentherapie in Lübeck.
Sie hatte eigentlich erwartet, dass die Gruppe der App-Benutzer*innen weniger Ne-benwirkungen hat als jene Gruppe, die nicht die App benutzt. Inga Zwaan arbeitet unter der Leitung von Chefarzt Prof. Dirk Rades und gemeinsam mit der Studienkoordinatorin Liv Dollmann an einer Studie mit Patient*innen, die an Tumoren im Hals- und Kopfbereich leiden.
Die ErinnerungsApp ist ein Programm, das auf dem Smartphone der Patient*innen installiert wird. Es soll diese daran erin-nern, die umfangreichen Pflegemaßnahmen durchzuführen, die während einer Strahlenbehandlung notwendig sind. „Um die Nebenwirkungen so gering wie möglich zu halten sind die regelmäßige Hautpflege und Mundschleimhautpflege wichtig – vier Mal am Tag! Das ist sehr häufig und erfordert ein hohes Maß an Selbstdisziplin von den Betroffenen. Wir empfehlen, die Maßnahmen von Anfang an auch prophylaktisch durchzuführen, auch wenn Haut und Schleimhaut noch unauffällig sind“, sagt Inga Zwaan. Durch die Strahlenbehandlung werden Haut und Schleimhaut stark in Mitleidenschaft gezogen, und häufig treten hier typische Nebenwirkungen auf.
Liv Dollmann ergänzt: „Zwischen 86 – 100% der Patienten bekommen eine Hautentzündung oder Schleimhautentzündung zweiten Grades“, und das kann nicht nur sehr schmerzhaft sein sondern auch die Lebensqualität empfindlich beeinträchtigen. Zudem muss im Fall einer ausgeprägten Entzündung die Strahlenbe-handlung möglicherweise unterbrochen werden.
Eine Nebenwirkung wie beispielsweise die Mukositis, die Entzündung der Mundschleimhaut, ist nicht nur unangenehm und schmerzhaft, sie erschwert auch die orale Nahrungsaufnahme oder macht diese sogar unmöglich. Die Patient*innen erhal-ten deshalb prophylaktisch eine Magensonde. Sie können sich dann selbst von außen über diese in der Bauchhaut platzierte Sonde Flüssignahrung in den Magen zuführen, um sich ausreichend ernähren zu können. Eine andere typische Nebenwir-kung ist die Radiodermatitis, eine Entzündung der Haut.
In der Anfangszeit der sechswöchigen Behandlung sind diese Nebenwirkungen zumeist noch nicht spürbar, und so verges-sen die Patient*innen mitunter die aufwendigen Pflegemaßnahmen. Deshalb entstand die Idee, sie mit einer App daran zu erinnern, und mit dieser App auch eine im Smartphone abrufbare fundierte Anleitung für die richtige Pflege zur Verfügung zu stellen. Gemeinsam mit der Lübecker Firma Nextlabel wurde diese App entwickelt, und seit Herbst 2020 wird sie in Lübeck getestet. Nachdem zuerst 30 gesunde Freiwillige die App getestet hatten, haben mittlerweile auch 28 Patient*innen an der Studie teilgenommen.
Während der Studie wird eine Hälfte der Testgruppe im Behandlungsverlauf durch die ErinnerungsApp an die regelmäßige Pflege erinnert, während die andere Hälfte der Gruppe die Behandlung ohne diese zusätzlichen Erinnerungen durchführt. Die App hat hierbei drei Funktionen: Zum einen ist sie eine Art Wecker, der viermal täglich auf die Pflege hinweist, zum anderen gibt sie Pflegeanleitungen, und letztlich bestätigt sie die durchgeführte Pflege mit einem kleinen Belohnungs-Icon. Alle in diesem Zusammenhang entstehenden Daten werden ausschließlich lokal auf dem Smartphone gespeichert, alle Angaben der Patient*innen werden anonymisiert. Inga Zwaan: „Wir begleiten die Patienten sehr intensiv über die gesamte Therapie, und machen zum Beginn und zum Abschluss eine Befragung bezüglich der Lebensqualität.“
„Das Ziel der Studie ist es, herauszufinden, ob die Anwendung der ErinnerungsApp eine Verbesserung im Vergleich zur Standardtherapie ohne App bewirkt oder nicht. Dabei ist zu beachten, dass die App an sich keine medizinische Behandlung, sondern nur eine Zusatzfunktion ist“, erläutert Liv Dollmann. Und hier zeigte sich nun überraschenderweise, dass beide Gruppen, die mit und die ohne App-Nutzung gleichermaßen gut abschnitten. Zu diesem unerwarteten Zwischenergebnis „gibt es mehrere Hypothesen, die wir jetzt prüfen“, sagt Inga Zwaan. „Eine Hypothese ist, dass die Patienten dadurch, dass sie überhaupt an dieser Studie teilnehmen, eine allgemein höhere Aufmerksamkeit zeigen und sich viel mehr Mühe mit der Durchführung der Pflege geben.“
Neben diesem Zwischenergebnis gab es noch eine weitere überraschende Erkenntnis: „Die App ist prinzipiell eine sehr gute Idee, aber vielleicht nicht für jeden geeignet. Nicht ganz unerwartet tun sich ältere Patienten schwer damit, die App zu nutzen. Unsere Patienten haben meistens ein Alter von Mitte 50 aufwärts – viele sind nicht im Besitz eines Smartphones, manche nicht einmal im Besitz eines Mobiltelefons“, so Inga Zwaan. Abschließend führt sie aus: „Obwohl im Rahmen unse-rer Studie die App bisher nicht zu einer Verminderung der Nebenwirkungen geführt hat haben wir dennoch die Hoffnung, dass sie ein wichtiges Hilfsmittel sein kann, um Patienten während ihrer Strahlentherapie zu unterstützen.“